Orakel
Gegenüber des einzigen verbliebenen verbarrikadierten Eingangs zur Haupthöhle des Kaers liegt eine Erhöhung, von der sich bis vor wenigen Tagen noch ein kleines Rinnsal seinen Weg zum tiefsten Punkt der Höhle gebahnt hatte um dort im Sand langsam zu versickern. Es war die Quelle, das letzte bekannte Wasservorkommen, für die Bewohner dieser unterirdischen Katakomben. Bald schon werden die letzten Fässer, die letzten Wasserschläuche geleert sein und was dann kommt ist das Ende. Sie hatte es schon öfters gesehen - in ihren Träumen, in ihren Visionen - aber noch nie so deutlich vor ihren schon fast blinden Augen.
Sie ist das Orakel, die geistige Führerin der Verbliebenen. Sie war eine alte, dürre Frau, mit strähnigen grauen Haaren. Seit vor rund dreihundert Jahren die Haupthöhle einstürzte sind nur noch rund sechshundert Seelen übrig, über die sie, ihr wachsames Auge hält - ihr inneres, ihr drittes Auge. Doch sie wusste sehr wohl auch dass sie nicht immer helfen konnte - sie musste das selbst am eigenen Leib erfahren als sie einen kleineren Einsturz vor ein paar Jahren zu spät vorhergesehen hatte und seit jenem Tage wegen ihrer zertrümmerten Hüfte sich fortan nicht mehr von selbst fortbewegen konnte. Das verunsicherte sie, denn nun auch das Versiegen der Quelle wart ihr nicht offenbart worden.
Doch jemand anderer hat davon gewusst - fiel ihr plötzlich wieder ein. Denn es war keine ganze Woche davor gewesen, als ihre Tochter wieder einen ihrer Anfälle hatte. Sie sei bei der Quelle aufgefunden worden, hieß es, und sie würde sich weigern sich von ihr zu entfernen bevor sie sie nicht leergetrunken hätte. Erst als sie - wohl durch das viele Wasser in ihr verursacht - das Bewußtsein verlor, konnte man sie fortschaffen. Ja! Jetzt sah sie es deutlich - ihre Tochter sah das Ende der Quelle.
Sie lies nach ihrem Kind schicken und beobachte währenddessen von ihrem Platz auf der Erhöhung, auf der ein Verschlag für sie errichtet worden war, verschwommen das verzweifelte Treiben unter ihr. Der Häuptling des Kaers tat alles daran um die Ordnung aufrecht zu erhalten, Plünderungen zu vermeiden und die beschlossene Rationierung durchzusetzen. Doch jedem einzelnen war die Verzweiflung in dieser Situation anzusehen.
Als Tiamatia-Amathea gebracht wurde erhob sie sich aus ihren Lumpen, in denen sie auf ihre Bahre gelegen hatte. Sie lies sich Wasser reichen und eine Schale. "Geliebte Tochter, Zum Wohle aller - ich muss dir noch einmal weh tun!", sprach sie kraftvoll und durchdringend. Amathea schrie auf und versuchte zu fliehen. "Haltet sie fest!", befahl sie den beistehenden Wachen und so wurde ihre Tochter, die sich beißend und kratzend zu wehren versuchte, vor ihr auf dem Boden fixiert.
Sie schnitt nicht tief in das Fleisch, nur soviel dass es leicht zu rinnen begann. Sie lies das Blut aus ihrer Hand über ihre alte zerfurchte und zerschnittene Haut laufen und langsam in die Schale tropfen. Dann nahm sie einen Stößel und zerrieb die Kräuter in dem Blut, dass sie mit etwas Wasser vor dem Gerinnen bewahrte. "Tiamatia-Amathea, mach den Mund auf! Du zwingst mich so nur dir noch mehr weh zu tun!" Doch ihre Tochter hörte nicht auf ihr Widerstand entgegen zu bringen. So ließ sie ihr den Mund öffnen und flößte ihr die Brühe Schluck für Schluck ein, bis ihre Tochter alles in sich hatte.
Mit dem letzen Tropfen wurde es ganz ruhig. Der gehetzte Atem setzte sich. Die angespannten Muskeln wurden schlaff. Auch die Augen waren geschlossen. Ihr Geist war auf Reisen gegangen - auf gefährliche Reisen in andere Ebenen. An Orte wo viel größere Gefahr lauert als nur der Tod. Sterben ist einfach und ist im Leben des Kaer fast alltäglich geworden. Doch das was Amathea nun besuchte waren genau jene Schrecken die sie durch aufwenige Rituale, kühne Konstruktionen und unter Aufopferung vieler Leben so lange aussperren konnten.